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Herausgefordert lebt es sich mit höherem Entwicklungspotenzial
Erst hier, an diesem Wendepunkt, wo die Zukunft den Platz der Gegenwart einnehmen soll, müssen die Feststellungen der Wissenschaft der Vorwegnahme durch den Glauben weichen; hier kann unsere Ratlosigkeit beginnen, und hier ist sie im Recht. Was hinter der modernen Unruhe sich herausbildet und heranwächst, ist nichts Geringeres als eine organische Krise der Evolution.
Pierre Teilhard de Chardin
Ausblick und Abschied
Ich arbeite nun schon seit vielen Jahren als Hirnforscher, und noch immer bereitet mir die Arbeit im Labor sehr viel Freude, aber ich glaube, Sie wissen jetzt, weshalb ich ab und zu ebenso gern hier oben auf meinem Hügel bin. Hier kommt man nicht auf die Idee, jeden Stein umdrehen zu müssen, um zu verstehen, wie Wege und Straßen entstehen und vergehen. Man ist hier hoch genug, um zu schauen, aber nicht so hoch, dass man die Übersicht verliert. Von hier aus kann man sie genau beobachten, die begeisterten Hochflieger und Tiefbohrer, die notorischen Besserwisser, die sich ständig zu Wort melden, nur um sich immer Wieder zu bestätigen, wie wichtig sie sind. Sie werden über unser langweiliges Plätzchen hier oben nur müde lächeln und fortfahren, Fragen zu beantworten, die keiner gestellt hat, und Dinge zu tun, die nur von ihnen getan werden können. Sie werden noch einige Zeit damit verbringen, die Räder eines immer unsinniger werden den Uhrwerks in Gang zu halten. Das einzige, was sie dabei bewegen, sind die Zeiger, die ihnen deutlich machen, dass die Zeit, ihre Zeit, vergeht. Je älter sie werden, um so lauter werden sie sich fragen, wie sie eigentlich in dieses Räderwerk gelangt sind. Manche finden einen Ausweg, andere machen nicht mehr richtig mit. So wird die Last für diejenigen, die noch mit der alten Begeisterung an den alten Rädern drehen, immer schwerer, bis auch sie die Vergeblichkeit ihrer Bemühungen erkennen und feststellen, dass sich die Angst nur eine Zeitlang dadurch besiegen lässt, dass man immer schneller an immer größeren Rädern eines vorgefundenen Getriebes dreht. Wer ein Programm hat, das nicht geeignet ist, die Angst kontrollierbar zu machen, ist verloren. Das ist das uralte biologische Gesetz, an dem bereits die Saurier gescheitert sind. Aber Sie, nachdem wir zusammen hier oben auf diesem Hügel waren, was ist mit Ihnen? Haben wir von hier etwas anderes gesehen als das, was sie selbst schon immer gefühlt und gewusst haben? Ich glaube das nicht, denn es war ja eigentlich nichts anderes als das, was wir tagtäglich erleben. Alles um uns, was lebendig ist und in seiner Harmonie gestört wird, versucht mit allen ihm zur Verfügung stehenden Mitteln, die verlorengegangene Harmonie wiederzufinden, zunächst die alte, und wenn das nicht geht, eben eine neue. Deshalb kann alles, was lebt, nie so bleiben, wie es ist. Dies gilt für jede einzelne Zelle, das gilt für jeden von uns, und das gilt natürlich auch für jede Gesellschaft. Eine Zelle kann sich nur verändern, indem sie die Art des Zusammenwirkens ihrer Teile verändert. Wir können uns nur verändern, indem wir die Art des Zusammenwirkens derjenigen Zellen verändern, die unser Verhalten bestimmen. Und eine Gesellschaft kann sich nur verändern, wenn sich diejenigen verändern, die diese Gesellschaft so machen, wie sie ist. Das klingt alles sehr banal und doch tun wir uns so schwer damit. Zu allen Zeiten und in allen Kulturkreisen haben Menschen eine Antwort auf die Frage gesucht, warum sie selbst, warum andere Menschen, warum die Welt, in die sie hineingeboren wurden, so ist, wie sie ist. Was ihnen anfangs noch als gottgegebene Ordnung erschien, wurde mit zunehmender Kenntnis der Zusammenhänge und Wechselbeziehungen zwischen den für sie sichtbaren Strukturen der Natur und Gesellschaft erst in kleinen, später in immer größer werdenden Schritten erklärbar. Sie suchten nach Lösungen für die Probleme der Welt, in der sie sich täglich bewegten und die sie kennen mussten, um möglichst gefahrlos und unbehindert ihre Bedürfnisse zu befriedigen, Handel zu treiben, Ressourcen zu erschließen und sich vor Angriffen zu schützen. Einzelne Wissenschaftsdisziplinen wurden entwickelt, um immer tiefer in die Zusammenhänge zunächst der physikalischen, später der chemischen und atomaren und schließlich auch der lebendigen Welt einzudringen und die dort entdeckten Phänomene nutzbar zu machen. Die Triebfeder all dieser Anstrengungen war die Angst, und das Ziel all dieser Bemühungen war Sicherheit. Die geeignetste Strategie, der effektivste Weg zum Erreichen dieser Sicherheit, so schien es für lange Zeit, war die Schaffung materieller und geistiger Unabhängigkeit, also die Aneignung von Macht und Wissen. Wir sind noch immer auf diesem Weg, der von unseren Vorfahren so erfolgreich eingeschlagen worden ist. Die Signale, die uns aus der Gesellschaft und aus unserem Körper inzwischen erreichen, sagen uns jedoch immer eindringlicher, dass dieser Weg eine Sackgasse zu sein scheint. Er führt nicht dorthin, wo mehr Sicherheit und weniger Angst zu finden sind. Die individuelle oder kollektive Anhäufung von Wissen und Macht, die so lange geeignet schien, die Angst und die damit einhergehende Stressreaktion kontrollierbar zu machen, ist inzwischen selbst zu einer Bedrohung geworden. Sie hat zwangsläufig andere zurückgelassen, die weniger Macht haben, die ärmer sind und weniger wissen. Getrieben von der Angst und auf der Suche nach mehr Sicherheit folgen diese Menschen, wie ein kleiner Junge seinem scheinbar allmächtigem Vater, dem so hell beleuchteten Pfad der Erfolgreichen, der Mächtigen, der materiell Unabhängigen auf dieser Welt. Als Einzelne, als Gruppen oder als ganze Gesellschaften nehmen sie, was sie bekommen können, und zwar von dort, wo es zu holen ist und mit allen Mitteln, die ihnen zur Verfügung stehen. So wächst die Angst derer, die nun erleben müssen, wie ihre so mühevoll zusammengenähte Decke aus Wohlstand und Macht immer dünner und löchriger zu werden beginnt. Zuerst irritiert, dann beunruhigt und schließlich ernsthaft beängstigt machen sie verschiedene Versuche, das Problem mit den bisher erfolgreichen Strategien zu bewältigen. Ihre Macht reicht nicht aus, um die alte Ordnung wieder herzustellen, ihren Reichtum können sie nicht opfern, und ihr ganzes angehäuftes Wissen darüber, wie man Macht und Reichtum erlangt, stellt sich als völlig nutzlos heraus, um diese Art von Bedrohung abzuwenden. Die Situation beginnt ausweglos zu werden, eine unkontrollierbare Stressreaktion ist unabwendbar. Sie erfasst zunächst die schwächeren Glieder der sogenannten Wohlstandsgesellschaft, die Kranken, die Alten, die Kinderreichen, die Empfindlicheren, die weniger Mächtigen und weniger Reichen, die Arbeitslosen, Zugewanderten und Rechtlosen. Bei denen, die noch Kraft haben, führt die wachsende Angst zu steigender Gewaltbereitschaft, bei den anderen zu Resignation, Krankheit und Zerfall. Das alles wussten oder ahnten Sie ebenfalls schon seit langem und können es sich, wenn es sein muss, täglich durch die Nachrichten oder die Zeitungen bestätigen lassen. Was sie aber vielleicht nicht wussten, und was ich auf diesen wenigen Seiten von meiner Hügelperspektive deutlich zu machen versucht habe, ist etwas, was auch ich bis vor wenigen Jahren nicht zu denken gewagt hätte. Dass es nämlich irgendwann einmal möglich werden würde, so große Bereiche des Wirrwarrs im Fühlen und Denken einzelner Menschen und damit auch so viele Ungereimtheiten und Widersprüche im Denken, Fühlen und Handeln großer Gruppen von Menschen auf einen biologischen Mechanismus zurückzuführen. Ich hätte es auch nicht für möglich gehalten, dass bei dem Versuch, die Ursachen, die Mechanismen und die Konsequenzen der neuroendokrinen Stressreaktion bis in das letzte Detail, bis hinunter auf die Ebene der molekularen Sequenzen und Interaktionen zu studieren und zu analysieren, irgendwann einmal so viel Information zusammengetragen werden würde, dass sich daraus, wie bei einem Puzzle, ein Bild zusammenfügen lässt. Ich hätte auch nicht geglaubt, dass dieses Bild am Ende so bestechend einfach aussehen würde, dass man es jedem Menschen, der verstehen möchte, auf wenigen Seiten nachzeichnen kann. Und wie sehr sich dieses Bild von all dem unterscheidet, was uns bisher über die negativen Auswirkungen von Angst und Streß einzureden versucht wurde! Wir brauchen immer neue Herausforderungen und die damit einhergehenden kontrollierbaren Stressreaktionen, um uns immer besser an die vielfältigen Erfordernisse unserer Lebenswelt anpassen zu können. Wenn wir dann, vom Erfolg unserer Bemühungen in einzelnen Bereichen geblendet, starr und unachtsam zu werden beginnen, uns selbst überschätzen und uns einbilden, alles sei von uns kontrollierbar und beherrschbar, so brauchen wir ebenso dieses anhaltende Gefühl von Angst, Verzweiflung und Ohnmacht und die damit einhergehende unkontrollierbare Stressreaktion mit ihren destabilisierenden Einflüssen auf die in unserem Gehirn angelegten Verschaltungsmuster. Wie sonst könnte es uns gelingen, aus den bisherigen Bahnen unseres Denkens, Fühlens und Handelns auszubrechen und nach neuen, geeigneteren Wegen zu suchen? Wir haben die Stressreaktion nicht deshalb, damit wir krank werden, sondern damit wir uns ändern können. Krank Werden wir erst dann, wenn wir die Chancen, die sie uns bietet, nicht nutzen. Wenn wir die Herausforderungen, die das Leben bietet, vermeiden, ebenso, wie wenn wir immer wieder nur ganz bestimmte Herausforderungen suchen. Wenn wir uns Weigern, die Angst zuzulassen und unsere Ohnmacht einzugestehen ebenso, Wie wenn wir unfähig sind, nach neuen Wegen zu suchen, um sie überwindbar zu machen. Auch das gilt für jeden einzelnen ebenso wie für die Gemeinschaften oder Gesellschaften, die sie alle zusammen bilden. Vor Jahren habe ich das Zitat eines Philosophen aus der Renaissance-Zeit gefunden, das mir seitdem nicht mehr aus dem Sinn gegangen ist: ››Naturae enim non imperatur, nisi parendo« (››Denn der Natur wird nicht befohlen, außer indem man ihr gehorcht«, Bacon, Novum Organum). Erst jetzt beginne ich zu begreifen, was dieser Satz bedeutet: Erst wenn es uns gelingt, zu erkennen, durch welche Gesetzmäßigkeiten und Prinzipien die Entwicklung lebender Systeme bestimmt wird, erst dann, wenn wir begreifen, weshalb bestimmte Prozesse in bestimmte Richtungen gelenkt werden, haben wir die Möglichkeit, diese Entwicklungsrichtungen auch gezielt zu beeinflussen und korrigierend in absehbare Fehlentwicklungen einzugreifen. Erst wenn wir verstehen, Weshalb und Wovor Menschen Angst haben und Was mit ihnen dann passiert, können wir nach geeigneten Auswegen suchen. Wir müssen nicht mehr wie unwissende Kinder den von den Eltern eingeschlagenen und von deren Eltern vorgezeichneten Wegen in ausweglose Sackgassen folgen. Wir müssen auch nicht mehr wie Blinde auf die von allen Seiten auf uns herabrieselnden Ratschläge, Warnungen und gut gemeinten Hinweise derjenigen hören, die glauben, ganz besonders gut sehen zu können, Weil sie dicke Brillen tragen. Wir können prüfen, ob die Richtung stimmt, in die sie uns zu lenken versuchen. Weil wir Wissen, dass die Angst, dass kontrollierbare Herausforderungen und unkontrollierbare Belastung die Wege unseres Denkens und Fühlens bestimmen werden, können wir uns fragen, ob ihr Rat mit dem vereinbar ist, was wir wollen und ob ihr Rat uns deshalb auf einen Weg führen kann, der nicht zwangsläufig wieder als Sackgasse enden muss. Was, so mögen Sie nun noch fragen, nützt uns all das schöne Wissen. Die Entwicklungen so vieler einzelner Menschen und deshalb auch der Gesellschaften, die sie bilden, sind inzwischen so fehlgerichtet, dass jeder Versuch einer Kursänderung unabsehbare Folgen hätte. Ist das wirklich so? Die Menschen vor uns haben unendlich viel Zeit damit verbracht, ihre Waffen zu schärfen, Reichtum, Macht und Wissen anzuhäufen. Dabei sind zwangsläufig immer komplexere und immer stärker vernetzte gesellschaftliche Beziehungen entstanden. Solche Systeme brechen nicht plötzlich wie ein Kartenhaus zusammen. Sie lassen sich ganz allmählich und sehr gezielt verändern, indem immer mehr Menschen an all den Stellen, wo ein solches System bedrohlich starr zu werden beginnt, zur Seite treten und einfach einen anderen Weg einschlagen. Vielleicht ist es das, was Julian Huxley mit seiner Bemerkung meinte, ››der Mensch (sei) nichts anderes, als die zum Bewusst sein ihrer Selbst gelangte Evolution«. Hier und dort beginnt einer, eine Melodie zu summen, die von allen anderen und über alle Gräben hinweg wiedererkannt wird. Es ist ein uraltes Lied, das von Einzelnen immer wieder einmal gesungen wurde, solange es Menschen auf dieser Erde gibt. Es ist das Lied von der Befreiung unseres Denkens, Fühlens und Handelns aus den Fesseln der Angst. Ich glaube, es ist Zeit, dass wir von unserem Hügel herunterkommen. Ich wünsche Ihnen Umsicht und Zuversicht auf all Ihren Wegen.
Leben Sie wohl!